Gespensterspuk in der Christnacht

gespenster

Nachdem die Thierburg durch ein Erdbeben teilweise zerstört und von den adeligen Herrschaften verlassen worden war, lebte nur noch ein Pächter im ehemaligen Wirtschaftsgebäude, der mit seinen Leuten die Landwirtschaft betrieb. 

Es war in der Hl. Nacht. Draußen war es klirrend kalt. Unzählige Sterne funkelten am samtschwarzen Himmel. Raureif hing an den Weiden, die rund um die Thierburgweiher standen. Die Schneekristalle glitzerten im matten Schein der Sterne. Bei jedem Schritt knirschte der Schnee unter den Schuhen. 

Die Leute von der Thierburg waren auf dem Weg zur Mitternachtsmette nach St. Michael im Gnadenwald. Nur der alte Bauer, der nicht mehr so gut zu Fuß war, blieb zurück, um das Haus zu hüten und eventuell etwas über die Zukunft zu erfahren. In der Hl. Nacht können nämlich die Haustiere sprechen. Wie er gerade auf dem Weg in den Stall war, von St. Michael läuteten die Glocken zur Mette, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. Die Ruine des Saalbaues, der vom Erdbeben zerstört worden war, erstrahlte in hellem Lichterglanz. An den kristallenen Lustern brannten Hunderte Kerzen, und im großen Kamin loderte ein helles Feuer. Lustige Musik und Lachen klang aus den Fensterhöhlen.

Wie von einer unsichtbaren Hand gezogen, ging der alte Bauer auf eine der offenstehenden Türen zu, um das Fest besser beobachten zu können. Da saßen prunkvoll gekleidete Damen und Herren an einer festlich gedeckten Tafel. An ihrer Stirnseite thronte der Burgherr. Livrierte Diener trugen erlesene Speisen und Getränke auf und füllten die Teller und Gläser der Gäste. Jetzt erhob der Fürst den Becher auf das Wohl seiner Tafelrunde. Da wurde der Wein zu Essig, und die Speisen zerfielen in Staub und Asche. Als nun die Herren die Damen zum Tanze baten, erklang statt der lustigen Weisen das Miserere aus der Totenmesse. Die schönen Damen und stattlichen Herren verwandelten sich in Gerippe, die beim Tanze schaurig klapperten und sich aus Totenschädeln angrinsten.

Starr vor Angst und Schrecken verfolgte der alte Bauer mit weit geöffneten Augen das Geschehen. Als die Turmuhr in St. Michael einmal schlug, war der Spuk verschwunden, und ringsum nur mehr die stille, kalte Winternacht.

Weil sie an den hohen Feiertagen rauschende Feste gefeiert hatten, anstatt in die Hl. Messe zu gehen, mussten die edlen Ritter und stolzen Fräulein so für ihr sündhaftes Treiben büßen.

Der Bauer aber glaubte, aus einem bösen Traum zu erwachen. Schweißgebadet kehrte er in die Stube zurück und war froh, als seine Leute von der Christmette nach Hause kamen.

Gespensterspuk in der Christnacht (54 KB) - .PDF

01.12.2022